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Persönlicher Einblick in ein Stück deutsche Geschichte - Besuch von Abba Naor an der Staatlichen Realschule Fürstenfeldbruck

Alle 10. Klassen sind schon in der Mehrzweckhalle versammelt und unterhalten sich. Etwas ist trotzdem anders als sonst: Man spürt die Vorfreude, die Erwartung, sogar Aufregung bei den Schülern. Dann betritt ein Mann die Halle und zieht sofort alle Blicke auf sich. Die Gespräche verstummen, während er mit aufrechtem Gang und festem Schritt nach vorne marschieren. Seine 90 Jahre merkt man ihm wirklich nicht an. Dieser Mann strahlt etwas aus, dessen sich keiner entziehen kann. Abba Naor – er ist ein Stück lebendige Geschichte, und die Schüler wissen um das Privileg, ihn live erleben zu dürfen. Der Zeitzeuge des Holocaust, der eigentlich in Israel lebt, folgt einige Male im Jahr der Einladung der Bayerischen Regierung, um deutschen Schülern seine Geschichte zu erzählen. Gegen das Vergessen.

Doch zunächst muss umgebaut werden. Auf der Bühne stehen, nein, das will er nicht. Er möchte so nah wie möglich bei den Schülern sein, um mit ihnen zu agieren. Und das tut er: er bezieht sie mit ein, spricht mit ihnen wie mit alten Freunden, er geht durch die Reihen und wundert sich über die zerlöcherten Jeans: „Und dafür zahlt ihr sogar noch mehr als für ganze Hosen…verrückte Welt“. Die Schüler lachen, er hat sie schon längst eingefangen. Stillstand ist nicht sein Ding, das merkt man sofort. Ständig ist er in Bewegung. „Mein Sohn ist ein alter Mann. Der ist 66 und sitzt nur auf der Couch. Wie kann man das tun? Das ist langweilig!“

Dann beginnt seine Erzählung. Die Geschichte seines Lebens und unserer Vergangenheit. Er erzählt von einer glücklichen Kindheit in Litauen, die durch die Verordnungen der Nationalsozialisten mit einem Schlag zu Ende war. Von Verfolgungen und verlorenen Verwandten und Freunden: „Ich verstehe es bis heute nicht. Wir waren doch gute Litauer. Mein Vater war in der freiwilligen Feuerwehr. Unser einziger „Fehler“ war unsere Religion“.

Er erzählt von seinem Bruder, der zum Einkaufen geschickt wurde. Das war Juden verboten. Aber den Kindern würde man wohl nichts tun…sein Bruder kehrte nie mehr nach Hause zurück. Er war 14 Jahre alt. Noch heute ertappt Naor sich manchmal dabei, wie er auf der Straße Ausschau nach seinem Bruder hält: „Ich kann das, was ich weiß, immer noch nicht glauben“.

Er erzählt davon, wie man versucht hat, seine Heimatstadt schnell frei von Juden zu bekommen: „An einem Tag haben sie 3000 Menschen zusammengetrieben. Männer, Frauen, Kinder. Sie alle haben sie erschossen. Nur die kleinen Kinder, die hat man nicht erschossen“. Er macht eine lange Pause und wir alle denken: Natürlich nicht, niemand erschießt kleine Kinder. „Die hat man einfach lebendig in die Grube geworfen“. Wir starren ihn nur fassungslos an, während er mehr zu sich selbst sagt: „Manchmal frage ich mich, ob mir irgendjemand meine Geschichte wirklich glaubt.“

Dann erzählt er vom Leben im Ghetto, von den kleinen Freuden, von Momenten der Normalität. Wie schön es war, wenn man wieder kurz in die Schule gehen kann. „Es ist ein Privileg, dass ihr das dürft“. Die Erzählung geht weiter, nimmt uns mit auf seinen Weg in verschiedene Konzentrationslager bis nach Dachau. Seine Geschichte endet mit dem Todesmarsch, durch den alle Spuren verwischt werden sollte. Er wird für ihn nicht zum Todesmarsch, sondern endet mit der Rettung durch amerikanische Soldaten.

Der 20. Juli ist für ihn immer noch ein besonderer Tag. Während Deutschland sich an das Attentat der Gruppe rund um Claus Graf Schenk von Stauffenberg erinnert, erinnert er sich an seine Familie. „Wenn das Attentat geklappt hätte, dann….“ Ja, dann hätte er vielleicht nicht sechs Tage nach dessen Scheitern dabei zusehen müssen, wie seine Mutter mit dem sechsjährigen Bruder an der Hand in einen der Züge getrieben wurde – Endstation Vernichtungslager.

Doch das ist nicht das einzige, was er bis heute spürt. Er hat zwei Kühlschränke, sie sind immer prall gefüllt. „Wir essen das nicht alles. Aber man weiß ja nie, was kommt.“ Die Frage, ob sie etwas gegessen haben, ist die erste, die er seinen neun Urenkeln jedes Mal wieder stellt – das Gefühl des Hungers hat er nie vergessen. Auch lässt er sie nur ungern auf Schulexkursionen: „Wer weiß, ob sie wiederkommen“. Ein Schüler fragt ihn, ob er nie daran gedacht hatte, einfach aufzugeben. Hier muss Abba Naor nicht überlegen: „Ich hatte keine Angst vor dem Tod, er wäre eine Erlösung gewesen. Aber ich wollte leben.“ Einfach leben – so leicht ist es manchmal.

Nach zweieinhalb Stunden muss uns dieser große Mann verlassen. Er hat gleich noch einen Termin mit der Enkelin von Eisenhower. Nein, Stillstand ist nicht so sein Ding. Die Schüler verabschieden ihn mit Applaus: Nicht tobend-frenetisch, sondern ehrlich und voller Respekt. So, wie er es verdient. Und jeder spürt, dass er heute etwas Einzigartiges erleben durfte.

Ich verabschiede mich ebenfalls von ihm und sage ihm, dass ich hoffe, dass wir uns nochmal wiedersehen. Er sieht mich intensiv an und antwortet: „Das liegt an Ihnen. Ich werde noch bis 2025 da sein.“ Seine Ernsthaftigkeit ist so überzeugend, dass ich keine Sekunde an seinen Worten zweifle.





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