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„Es darf nie wieder passieren!“

https://www.sonntagsblatt.de/artikel/menschen/zeitzeugin-ruth-melcer-hat-als-kind-auschwitz-ueberlebt, 03.02.2022

Am 27.01.2022, dem internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, hatten die 10. Klassen der Realschule Weilheim sowie weitere 90 Schulen aus Bayern, die einmalige Gelegenheit, an einem Zeitzeuginnen-Interview, welches von der Friedrich-Ebert-Stiftung München durchgeführt wurde, mit Frau Melcer teilzunehmen.

Ruth Melcer wurde 1935 in der Nähe von Lodz geboren, genauer gesagt in Tomaszów Mazowiecki. Sie entstammte einer aus Ihrer Sicht „wohlhabenden Familie“ von Wollhändlern. 1941 wurde die Familie mit anderen Juden in ein Ghetto verbracht.
Bereits mit sieben Jahren kam sie in das Zwangsarbeitslager Blizyn.
Dort gab ihre Mutter sie als 12-Jährige aus, was ihre Chance war, zu überleben: „Die kleinen Kinder hatten gar keine Chance.“ So auch ihr kleiner Bruder, der erschossen wurde.
Hier, so Ruth Melcer, gab es immer genug zu essen, freilich nur gegen Bezahlung und man durfte sich nicht erwischen lassen.
Im Jahr 1944 kam sie schließlich nach Auschwitz-Birkenau, dem Symbol des NS-Terrors und des Holocausts. Immer wieder wurden im Laufe des Interviews vorher eingeschickte Fragen von Schülerinnen und Schülern beantwortet.

Wie war der Alltag in Auschwitz?
In Auschwitz nahm man den Menschen alles: die Kleidung, die Haare, die Würde. Jeder hungerte und schaute, dass er über die Runden kam.
„Ständig gab es Gewalt. Ich habe es gesehen. Die Kapos, die Blockältesten, die haben einfach geschlagen, ohne jeden Grund.“
Die Kapos waren meist deutsche Kriminelle, lesbische Frauen, selten auch polnische oder jüdische Häftlinge.
„Zunächst waren die Appelle, jeden Morgen, jeden Abend, es wurde immer gezählt, ob alle da sind. Dann musste man arbeiten.“
Diese bestand für Frauen und Kinder oft darin, Ziegel von einem Ort zum anderen zu tragen.
„Das waren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.“
Nach der Arbeit bekam man endlich Essen: „Eine Scheibe Brot und etwas „Suppe“. Das verdiente den Ausdruck gar nicht.“

Gab es Freundschaften zwischen den Gefangenen?
„Man dachte nie an Freundschaft. Das kam, als man satt war.“
Natürlich, so Frau Melcer weiter, machten sich die Gefangenen gegenseitig Mut, man hielt zusammen und die Frauen „redeten ständig übers Kochen und was sie nach dem Krieg essen würden.“
Allerdings geschah für Ruth Melcer so etwas wie ein kleines Wunder: die Blockälteste, Olga, hatte Ruth gleich zu Beginn ihrer Ankunft versteckt. „Die sah aus wie ich.“
Ruth Melcer wurde von Olga eingekleidet wie ein kleines Püppchen: mit einem Samtkleid und Lackschuhen.
„In einem Lager waren diese Dinger äußerst unpraktisch. Etwas zu essen wäre mir lieber gewesen.“ Olga versteckte Ruth vor Dr. Mengele, dem gefürchteten KZ-Arzt, der immer wieder kam, um Experimente, speziell an Kindern, durchzuführen.

Bekam man von der Welt außerhalb etwas mit?
„So gut wie nichts.“
Und wenn, dann nur durch Leute, die außerhalb arbeiteten, als Putzfrauen oder Handwerker. Allerdings kann sich Frau Melcer daran nicht zu erinnern: „Ich war zu klein.“

Wann war Ihre Befreiung und wie hat sich die abgespielt?
Im Januar 1945 wurden die noch überlebensfähigen Häftlinge auf einen Todesmarsch geschickt, darunter Ruths Eltern.
Die anderen, also Kranke, Frauen (die meisten davon Sinti und Roma) und Kinder kamen in ein spezielles Lager, wo man die Menschen sich selber überließ.
„Zehn Tage waren wir in diesem Lager. Dann gab es eine Fata Morgana.“
Die Fata Morgana, so Frau Melcer, waren russische Soldaten, die in weißen Tarnanzügen 7000 Gefangene befreiten. Das war der 27.01.1945.
„Mit Kutschen brachten uns die Russen nach Krakau.“
Dort kam Ruth mit anderen Kindern in ein Kinderheim. Anschließend wurden die Erwachsenen und Ruth von der jüdischen Gemeinde Krakau aufgenommen.
Einer der Erwachsenen fuhr in den Heimatort von Ruth und konnte tatsächlich einen Onkel ausfindig machen, der sie und andere Erwachsene mitnahm.
„Ich war total verlaust und habe den ganzen Tag gegessen.“

Haben Sie Ihre Eltern wiedergefunden?
Ihre Mutter wurde im Mai aus dem KZ Ravensbrück befreit: „Sie wog 35 Kilo.“
Der Vater kam erst im September.

Wie ging es nach dem Krieg weiter?
Mittlerweile war Ruth Melcer zehn Jahre alt, konnte weder lesen noch schreiben und bekam daher Privatunterricht.
Ihre Eltern entschlossen sich 1946, Polen zu verlassen:
„Die Lage hatte sich verschlechtert.“
Polen war kommunistisch geworden, und eine polnische Untergrundorganisation tötete Juden. „Zunächst ging es nach Stettin, dann nach West-Berlin.“
Am Gymnasium hatte sie ehemalige NS-Lehrer, aber: „Ich hatte mir geschworen, mir nie wieder etwas gefallen zu lassen.“
1950 wanderte Ruth Melcer nach Israel aus, um dort ihr Abitur zu machen.
Danach kam sie wieder nach Deutschland zurück, auch wenn Deutschland „nicht auf der Prioritätsliste ganz oben stand.“

Wie gingen und gehen Sie mit Ihren Erlebnissen und Ihrem Schicksal um?
„Wir wollten vergessen, nur noch leben.“
Doch das war nicht so einfach:
„Ich war Menschen gegenüber sehr skeptisch. Mein ganzes Leben lang.“
„Bis heute habe ich auch noch Angst vor Hunden. Außer vor Dackeln, das geht.“

Wie geht es Ihnen heute, mit den aktuellen Entwicklungen?
Hier zeigte sich Frau Melcer besorgt, dass auf der Welt immer noch so viel Hunger herrscht.
Auch über das Klima macht sich Frau Melcer Gedanken.
Bestürzt ist Frau Melcer über den wieder aufkeimenden Antisemitismus.
Dieser sei latent da, da „braucht man keine Juden dazu! Man muss die Leute aufklären.“
Dies ginge über Comics, Filme, etc.

Und zum Schluss gab Frau Melcer allen Schülerinnen und Schülern und teilnehmenden Lehrkräften folgenden Appell mit auf den Weg: „Bitte schaut nicht weg! Es darf nie wieder passieren!“

Jakob Kienberger





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