Berlin – allein der Name löst eine endlose Reihe von Assoziationen aus: Machtzentrum, Großstadteleganz, Kulturhauptstadt, Partystadt, soziales Minenfeld etc. – doch was ist dran an all diesen Klischees?
Ein Blick zurück: 1927 bezeichnete der Schriftsteller Erich Kästner Berlin als „die interessanteste Großstadt der Welt. Es war die Metropole und verdiente sich diesen Titel jeden Tag und auch jede Nacht von neuem. Theater und Kunst, Musik und Literatur, Mode und Schönheit, Lust und Laster, alles drängte sich, wie unterm Brennglas zusammen. Freilich, unterm Brennglas ist es heiß. ...Es war ein Leben auf dem hohen Seil, und es war ein Leben ohne Netz. Und wer sich das Genick nicht brach, fand dieses Leben hinreißend. In Berlin fragte niemand nach der Hautfarbe, nach dem Pass, nach dem Bankkonto, nach der Vorbildung, nach den Zensuren, nach der Familienchronik....“
Und nun, 2024, hatte die Klasse 10 a der Städtischen Wilhelm-Röntgen-Realschule die Möglichkeit, erneut eine Bestandsaufnahme dieser Stadt zu versuchen, ein nicht zu unterschätzendes Vorhaben nach all den einschneidenden historischen, politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Berlin lag nach dem 2. Weltkrieg zerbombt in Trümmern, die Menschen waren bettelarm, mit Deutschland wurde Berlin geteilt, ging als gemeinsame Hauptstadt verloren und erlangte diesen Status erst wieder nach der Wiedervereinigung 1990. Nach hitzigen Diskussionen beschloss der Bundestag 1994, den Regierungssitz von Bonn nach Berlin zu verlegen. Das Reichstagsgebäude wurde modernisiert und erhielt die berühmte Glaskuppel, das Bundeskanzleramt entstand als ökologischer Vorzeigebau, viele Büros wurden neu eingerichtet. Im Herbst 1999 konnte das Parlament zum ersten Mal wieder in Berlin tagen. Was für ein fantastisches Ereignis!
Es war die Münchner Bundestagsabgeordnete Claudia Tausend, SPD, die die Schüler der Klasse 10 a gemeinsam mit den begleitenden Lehrkräften Maria Gerteisz, Konstanze Specht und Bastian Ligniez, in den Bundestag einlud. Wir waren vollauf begeistert und sehr dankbar, denn da Sie die Fahrtkosten mit der Bahn übernahm, konnten wir uns erlauben, nicht nur das Zentrum der Macht zu besuchen, sondern ein paar Tage, nämlich von Mittwochabend bis Samstagspätnachmittag in Berlin zu bleiben und die Magie dieser Großstadt zu entdecken. Kostengünstig wohnten wir in martas Gästehaus gleich in Bahnhofsnähe. Ein Teil der Kosten für die Unterkunft in martas Gästehaus fließt direkt in soziale Projekte, ganz konkret z. B. in die Betreuung der Obdachlosenunterkunft in unmittelbarer Nähe. Wer denkt da nicht gleich an die Worte von Klaus Wowereit, SPD, dem Ex-Regierenden Bürgermeister von Berlin, der Berlin kurz und bündig als „arm, aber sexy“ bezeichnete.
Das Regierungsviertel in Berlin, das wir am Donnerstag als zentralen Programmpunkt auf der To-do-Liste stehen hatten, war für uns alle spektakulär. Der Besuch im Bundestag, der Herzkammer der Macht, stellte ein ganz besonderes Erlebnis dar, ja, wir verspürten durchaus ein erhebendes und fast ehrfürchtiges Gefühl, als wir auf den Zuschauerrängen Platz genommen hatten und auf die blau gepolsterten Sitze der Abgeordneten hinuntersahen, das Rednerpult, die Sitzplätze des Präsidiums, der Bundestagspräsidentin, des Kanzlers, seiner Minister und der Vertreter der Länder vor Augen hatten, den etwas abseits stehenden Platz der Wehrbeauftragten und – die Schüler staunten – die Plätze der Stenographen, die auch im Zeitalter der Digitalisierung alles, was gesprochen und dazwischengerufen wird, protokollieren müssen. Unser Blick schweifte weiter zu dem riesigen Bundesadler und hinauf in die Kuppel, die wir dann auch begehen und von dort den grandiosen Rundblick über Berlin genießen konnten.
Der Referent von Claudia Tausend begrüßte die Klasse 10 a und die begleitenden Lehrkräfte im Bundestag – Claudia Tausend war an diesem Tag in ihrem Münchner Wahlkreis - und erkärte umfassend, unterhaltsam und sehr anschaulich die Aufgaben der Abgeordneten. Es wurde deutlich, dass jeder Abgeordnete den Spagat zwischen Berlin und seinem Wahlkreis bewältigen muss, wie Claudia Tausend diesen im Besonderen meistert, welche Aufgaben sie in den Ausschüssen wahrnimmt und vieles mehr. Auch in sein eigenes, vielfältiges Aufgabengebiet, das stets an die (Wieder-)Wahl der Abgeordneten gebunden und dadurch nie für lange Zeit sicher, aber immer spannend ist, nahm der Referent die Schüler und Lehrer erzählerisch mit. Das Abendessen bekamen wir im Paul-Löbe-Haus - es war reichlich und sehr, sehr lecker, aber nach den vielen Informationen, die wir den ganzen Tag im Bundestag konzentriert aufnehmen mussten, brauchten wir diese Stärkung ganz dringend.
Das Zentrum der Macht in Berlin war aufgrund der Konzentration der Regierungsgebäude auf einem riesigen Areal sehr beeindruckend, mit der vorbeiplätschernden Spree fast ein bisschen märchenhaft, am Bundesrat, dem ehemaligen „Herrenhaus“ konnte man ganz nah vorbeispazieren, vor Schloss Bellevue befand sich eine Bushaltestelle, die herrlichen Gebäude der politischen Macht waren überraschenderweise für jeden Bürger sehr nahbar.
Die historische Mitte Berlins, die uns unser junger, sympathischer Stadtführer am Freitagvormittag zeigte, war schillernd und faszinierend. Wir entdeckten unbekannte Flecken, alte Stadtmauern, aber auch viele Plätze und Bauten mit großen Namen: Nikolaikirche, Berlin Alexanderplatz, Fernsehturm, das rote Rathaus, den Platz der Bücherverbrennungen, das Humboldtmuseum, Oper, Theater, den Potsdamer Platz etc. Wir flanierten „Unter den Linden“ und den Kurfürstendamm entlang, wo der ausgestellte Luxus im KaDeWe ungeniert Kaufgelüste weckte. Der Besuch des Deutschlandmuseums am Freitagnachmittag war sehr kurzweilig, hier war es möglich, interaktiv, sogar mit Gerüchen, die Geschichte Deutschlands Revue passieren zu lassen.
Wir besuchten den Tränenpalast, wir tasteten uns ehrfürchtig durch das Stelenfeld, der zentralen Holocaust-Gedenkstädte in der Stadt und machten uns an den Resten der Mauer unsere Gedanken über die bedrückendsten Kapitel der deutschen Vergangenheit. Von allen Graffitis und Sprüchen ist es der Bruderkuss, der sich nicht mehr aus dem Gedächtnis löschen lässt.
Die Schüler hatten auch Zeit, auf eigene Faust Berlin zu erkunden, so beschäftigten sich einige näher mit der Deutschen Teilung, fuhren zum Checkpoint Charly, andere wollten richtig lecker arabisch essen und fuhren dazu nach Neukölln, das als cooles Szeneviertel für die Jugend große Anziehungskraft besitzt. Fast jeder von uns probierte die Berliner Currywurst, wo einem der Verkäufer gleich eine Kostprobe der „Berliner Schnauze“ mit servierte, da musste man als Bayer schon die Ohren spitzen!
„Uns hat die Berlinfahrt sehr gefallen, weil immer etwas Witziges geschehen ist, wenn wir draußen unterwegs waren und alles insgesamt sehr informativ war.“ - so resümierten Larissa und Yannick stellvertretend für viele die Klassenfahrt. Und Lea präzisierte noch genauer: „Die Fahrt nach Berlin und der Aufenthalt in Berlin waren toll. Es hat richtig Spaß gemacht, die Stadt mit der Klasse zu erkunden. Man hat viele Sachen und Orte kennengelernt, die man so davor nicht kannte. Es gab viele Sehenswürdigkeiten, aber am meisten hat mich die Geschichte der Stadt interessiert, aber auch der Bundestag. Berlin ist eine riesige Stadt, wo man jede Art von Menschen trifft, eine unglaubliche Vielfalt. Tipp: Wenn man in Berlin ist, sollte man unbedingt die Currywurst und den Döner probieren!“
Um festzustellen, ob die Stadt heute an den betörenden Magnetismus von 1927 herankommt, müsste man wohl längere Zeit in Berlin leben. Berlin tickt anders als München, das erkennt man in vier Tagen. Aber das übereinstimmende Fazit lautet, dass wir alle wunderschöne und viele unvergessliche Erinnerungen aus der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland mit in unsere dagegen fast dörflich wirkende bayerische Heimat-Hauptstadt München (oder doch unsere heimliche Welthauptstadt mit Herz?) nehmen konnten.
Maria Gerteisz, M.A. Lehrerin für PuG und Französisch, Wilhelm-Röntgen-Realschule
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